Stefan Keller
Komponist
English

'Perkussiver Hybridantrieb': Artikel von Dirk Wieschollek, erschienen in der Schweizer Musikzeitung, Nr.5/2020

Schweizer Musikzeitung Nr.5/2020 - Mai 2020



Kritik zu 'Persona', Eclat-Festival 2020, von Jan Brachmann, erschienen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 12.2.2020

Frankfurter Allgemeine Zeitung - 12.2.2020



Dissertation: 'Vistar in der Tabla-Musik - Studien zu Variationstechniken im nordindischen Trommelspiel'


Abstract:

Vistar (Ausbreitung, Erweiterung, Entwicklung), ein Begriff, der ursprünglich auf Melodik angewandt wurde, ist heute eine gängige Bezeichnung für das Verfahren in der tabla-Solomusik, eine Kette von Variationen zu einem Thema zu bilden. Obwohl tabla-Solos heute meist von Formen dominiert werden, die einen vistar enthalten, und obwohl dieser in besonderem Maß von der Kreativität und Spontaneität Einzelner abhängt, existiert keine wissenschaftliche Studie, die vistar als individuelle künstlerische Äußerung untersucht. Vielmehr herrscht eine normative Herangehensweise vor, die anhand von Regeln und beispielhaften Variationen den Eindruck einer statischen und homogenen Tradition vermittelt.

Die vorliegende Studie basiert auf Transkriptionen von 22 Interpretationen eines einzelnen qayda (Regel, Methode) durch 16 verschiedene tabla-Spieler aus unterschiedlichen Traditionen. Die qayda-Form aus Delhi gilt als jene mit dem stringentesten vistar, und der in der vorliegenden Studie untersuchte Delhi-qayda gehört zu den bekanntesten und meistgespielten überhaupt. Für die Transkriptionen wurden zwei verschiedene Notationssysteme entwickelt: ein ganz auf der in der tabla-Tradition gebräuchlichen Silbenschrift basierendes zur Veranschaulichung struktureller Zusammenhänge, und ein notenschriftliches, das erstmals Details der Spielweise sichtbar macht. Diese Systeme werden im Kontext bestehender Notationsweisen detailliert erörtert, ebenso die Methoden der Transkription sowie die bestehenden Theorien und Studien zu vistar in der tabla-Musik, insbesondere jene von Robert Gottlieb, James Kippen und Sudhir Mainkar.

Der erste Hauptteil der vorliegenden Arbeit besteht aus Analysen der 22 transkribierten qayda-Interpretationen, der zweite Hauptteil aus einem Vergleich dieser qayda-Interpretationen in Hinblick auf einzelne isolierte Aspekte. Dabei gelingt es, einige wenige besonders verbreitete und auf einfachen Prinzipien beruhende Variationstechniken zu identifizieren, die für einen Großteil des vistar verantwortlich sind. Außerdem erweist sich, dass einerseits die meisten Spieler auf ein gemeinsames Repertoire an vorkomponierten Phrasen zurückgreifen, von denen einige schon bei Ahmedjan Thirakwa auftreten, dem ältesten der untersuchten Spieler, dass aber andererseits auch eine große Vielfalt und Individualität der Herangehensweisen besteht, sowohl im Umgang mit den erwähnten vorkomponierten Phrasen, als auch durch die Anwendung individueller Konstruktionsprinzipien. Die Analysen befassen sich darüber hinaus eingehend mit der Spielweise des baya, d.h. der tieferen der beiden Trommeln, die in der Literatur zur tabla bisher nicht angemessenen berücksichtigt wurde, und weisen nach, wie hinzugefügte Schläge, Glissandi und Druckakzente, die durch die traditionellen Silben nicht adäquat repräsentiert und nur dank der grafischen Notation in Notenschrift detailliert untersucht werden können, häufig wesentlich zum vistar beitragen. Ein großer Unterschied zwischen den Spielern zeigt sich schließlich bei der Gestaltung des Verlaufs einer Variationenfolge, der bei einigen Spielern der jüngeren Generationen, insbesondere bei Shankar Ghosh, Latif Ahmed Khan und Aneesh Pradhan, deutlich stringenter, zielgerichteter und klarer gegliedert erscheint, als bei Vertretern der älteren Generationen wie etwa bei Ahmedjan Thirakwa, Keramatullah Khan oder Nizamuddin Khan.

Download: Vistar in der Tabla-Musik



'Erweiterte Bezugnahmen'

Dieser Text ist in der Zeitschrift MusikTexte erschienen. Er behandelt verschiedene Möglichkeiten, sich beim Komponieren auf bestehende Musik zu beziehen, unter anderem anhand meiner Komposition 'Hammer' und dem darin verarbeiteten Martillo, dem Basis-Pattern der kubanischen Bongos.

MusikTexte 148 - Februar 2016



'Takt und tal - eine vergleichende Studie zu europäischer und nordindischer klassischer Musik'

Diese musiktheoretische Arbeit befasst sich mit Phänomenen der Metrik und Rhythmik in den genannten Musiktraditionen. Die erste Fassung, zur Erlangung des Diploms in Komposition und Musiktheorie an der Hanns Eisler eingereicht, umfasst rund 60 Seiten und ist bei mir auf Anfrage erhältlich. Eine modifizierte Zusammenstellung der wichtigsten Kapitel (rund 20 Seiten) steht hier bereit.

Takt_und_tal-Kurzfassung.pdf



Über 'Schaukel'

Der Titel steht für zweierlei: für die Körperlichkeit der Musik, und für den spielerischen Umgang mit ihr. Die Lust, das Gewicht des eigenen Körpers zu spüren, seine Unterworfenheit unter die Gesetze der Schwerkraft, und gleichzeitig die eigene Kraft ins Spiel zu bringen, nicht nur um die wirksame Dynamik bis ins Äusserste zu steigern, sondern darüber hinaus auch um das gleichmässige Auf und Ab herauszufordern und Reaktionen zu testen - Stockungen, Wirbel, Stürze... dies sind wohl die Gründe für die Leidenschaft und Verausgabung, mit der Kinder sich dem Schaukeln hingeben. Etwas von dieser elementaren Spielfreude und von der durch sie zu erlangenden Erfüllung sind für mich zentraler Bestandteil von Musik.


S.K. (Programmhefttext)



Über 'Kraft in Erscheinung'

In Stefan Kellers Komposition steht das Linienhafte am Anfang. Aus der mikrotonal ab- und aufsteigenden Linie wird sich sukzessive die harmonische Struktur aufsteigender und fallender Akkorde heraus entwickeln. Dieses doch zarte Allmähliche des Beginnens wiederspricht scheinbar dem markigen Titel 'Kraft in Erscheinung'. Der Scheinwiderspruch löst sich auf, wenn der Titel im Zusammenhang seiner Herkunft betrachtet wird. Stefan Keller hat ihn einem Zitat des Musiktheoretikers Ernst Kurth entlehnt, der am Beginn des 20. Jahrhunderts eine Musikpsychologie entwickelte, mit der das Entstehen der Form als schöpferischen Werdegang zu ergründen versucht wird. Das Zitat lautet: 'Das Wesen der Harmonik ist daher ihr stetes Erstehen, das Überfließen von Kraft in Erscheinung.' Dieser stetige Prozess des Erstehens, das ständige Überfließen vom Einen zum Anderen, vom linear Melodischen ins akkordisch Harmonische lässt sich im Sinne einer derartigen Hörpsychologie in Kellers Komposition durchaus nachvollziehen. Nur handelt es sich keineswegs um die Illustration einer These, sondern um ein wahlverwandtes Denken. Das aber auch seine Grenzen hat. Denn Kurths Theorie bezieht sich auf die romantische Entgrenzung der tonalen Harmonik in Wagners 'Tristan und Isolde', während Stefan Kellers Auseinandersetzung mit mikrotonaler Harmonik und Lineatur diese Form der Grenzüberschreitung bereits in ein anderes Systemdenken, etwa das der französischen Spektralisten weitergetrieben hat. Das wahlverwandte Denken des Theoretikers Kurth hat Stefan Keller dabei nicht auf die Harmonik allein begrenzt. Von der melodischen Keimzelle war ja schon die Rede, aber auch das stete Entstehen des Rhythmus aus dem Linearen ins komplex Verdichtete wird in diesem Stück geradezu körperlich spürbar: Man könnte, wenn man wollte, im Hintergrund den erfahrenen Tabla-Spieler Stefan Keller durchhören.

Bernd Künzig (Programmhefttext zum Ultraschall Festival 2013)



Über 'Spring!'

Der Titel ist deutsch zu lesen. Er steht als Chiffre für Irreversibilität.
S.K.



Über 'Übersteiger'

Stefan Keller, was bedeutet der Titel Übersteiger im Deutschen?
Die eigentliche Bedeutung ist sehr einfach: das Wort kommt aus dem Fussball und bezeichnet eine Technik, die im Französischen 'passement de jambe' genannt wird. Das ist eine Bewegung des Fusses um den Ball herum, die zum Ziel hat, den Gegenspieler zu verwirren und eine falsche Erwartung zu wecken bezüglich der Richtung in welche man den Ball zu spielen beabsichtigt. Kurz gesagt, es handelt sich um eine Finte, um ein Täuschungsmanöver.
Weshalb dieser Titel?
Weil das Wort 'Übersteiger' bzw. das zugehörige Verb 'übersteigen' im Deutschen zahlreiche Assoziationen philosophischer Natur weckt. Mit der Wahl dieses Titels wollte ich mich ein wenig lustig machen über die häufig anzutreffenden Titel mit philosophischem (oder transzendentem) Anspruch, indem ich den meinen in die primitive Welt des Sports umdeute.
Dieser Titel ist demnach selbst eine Finte? Ein Übersteiger?
Genau. Auch wenn ich den Titeln meiner Stücke im Allgemeinen wenig Bedeutung zumesse, ist es tatsächlich so, dass das Spiel mit Hörerwartungen für meine Schreibweise wichtig ist und unerwartete Wendungen in meiner Musik häufiger vorkommen.

Interview geführt von Jérémie Szpirglas (im Original auf Französisch)
Die Rechte an diesem Text liegen bei J.S.



Über 'Prélude für Tabla und Live-Elektronik'

Die elektronischen Klänge, die in diesem Stück präzise mit denen der Tabla koordiniert sind, aus ihnen hervorgehen und oft auch weitgehend mit ihnen verschmelzen, haben hauptsächlich zwei Funktionen. Zum einen sollen sie die Klänge der Tabla aus dem ästhetischen Kontext der nordindischen klassischen Musik ein Stück weit 'befreien' und ihnen, sei es durch eine gewisse Aggressivität oder Skurrilität oder auch einfach durch mehrstimmige Aufspaltung, sowie durch assoziative Verbindungen zu den ganz entfernten Traditionen der elektronischen Musik, neue Ausdruckspotenziale zuführen. Zum anderen greift die Elektronik in die essenzielle Differenzierungstechnik der Tabla ein: die Bildung von Klangkontrasten. Diese werden gesteigert, durch Übergänge und Querverbindungen bereichert, und dienen auch dem Zweck, auf der formalen Ebene von Abschnitten dem mit der 'Tablasprache' wenig vertrauten Hörer die Orientierung zu erleichtern. Denn die Gegenüberstellung, Entwicklung und Verknüpfung von thematischen Gedanken und Motiven, die ganz und gar un-indischen Verlauf nimmt und sich über das gesamte Prélude als Einheit ausbreitet, droht leicht für ein europäisches Ohr im virtuosen Fluss der Tablafiguren unterzugehen.
S.K.



Über 'Trio für Tabla, Klarinette und Violine'

Die Arbeit am Trio für Tabla, Klarinette und Geige war eine völlig neue Erfahrung für mich, da es sich um eine Komposition handelt, die gleichzeitig an zwei sehr verschiedenen musikalischen Traditionen teilhat. Wenn man für Tabla komponieren möchte, muss man sich zwangsläufig mit der nordindischen Tradition auseinandersetzen, sofern man am Reichtum des Instruments interessiert ist. Das Trio macht deshalb nicht nur oberflächlichen Gebrauch von Klängen, sondern auch von zahlreichen kompositorischen Techniken, die der europäischen Tradition fremd sind. Die Art der motivischen Entwicklung sowie der Formverlauf sind dagegen allein aus der indischen Tradition heraus nicht verständlich, ebensowenig das kontrapunktische Zusammenspiel der Instrumente. Für die Musiker bedeutet ein solcher Hybrid eine grosse Herausforderung: europäischen Ohren fällt es schwer, sich in den rasanten Schlagfolgen der Tabla zurechtzufinden; für einen in der indischen Tradition beheimateten Tablaspieler wiederum wäre die Arbeitsweise, ein durchkomponiertes Werk von mehreren Minuten Dauer aus einer Partitur zu erlernen, völlig ungewohnt. Die bisherigen Aufführungen des Trios (in seiner originalen Instrumentation) waren denn auch nur möglich, weil der Komponist selber den Part an der Tabla übernommen hat.
S.K.



Über 'driven'

Stefan Kellers Ensemblestück "driven" hebt von den insgesamt dreizehn verwendeten Instrumenten zwei besonders hervor: die elektrisch verstärkte Gitarre und das Klavier. Erstere startet das Stück mit rasch repetitiven Akkorden. Zwei, drei solche Versuche lassen die anderen Instrumente allmählich in Bewegung kommen. Dieses "In-Bewegung-gekommen-sein" mag mit dem Titel zusammenhängen, der aus dem Englischen ins Deutsche übertragen wohl mit "angetrieben" oder "abgefahren" am präzisesten beschreibt, was innerhalb der 276 Takte geschieht. Antreibungsgesten, Beschleunigungsbewegungen sehr oft von unten nach oben, Skalen unterschiedlicher Länge und unterschiedlicher Farbe auf verschiedene Instrumente asynchron verteilt, schaffen permanente Unruhe und bizarre Bewegungsverläufe. Immer wieder motorische Floskeln täuschen einen patternartig gleichförmigen Verlauf vor. In diesem Gestenrepertoire finden sich hier und da auch Reste von Melodien, die aus unterschiedlichem Material geladen sind und sich entsprechend entladen, mal kantilenenschwanger, mal motivisch. Irgendwann, wenn alle Instrumente zusammen dem Werk einen höheren Grad an Klangdichte verabreicht haben und die Gitarre ihre repetitiven Muster variantenreich ständig einbringt, wird endlich das Klavier "losgelassen". Man könnte das als eine Kadenz deuten, aber eher handelt es sich wohl um ein Intermezzo, das kurz vor dem Schluss verkürzt noch einmal nahezu gleichlautend wiederholt wird. Diese solistische Tat wird nun von den anderen Instrumenten kommentiert und alsbald aus raschem Tempo zur Ruhe gezwungen. In der Mitte der Komposition treten alle Instrumente irgendwie solistisch mit Ligaturen in den Vordergrund und verlangsamen die Nervosität. Akkorde, mit Fermaten versehen, werden in verschiedenen Mixturen allmählich kontrapunktisch aufgeweicht. Danach zerfällt die Ruhe in winzige Motive, die ihrerseits allmählich wieder Tempo machen durch den anfangs so häufig nach oben aufsteigenden Skalencharakter. Fast reprisenartig wird das schon einmal Gehörte in Varianten wieder aufgegriffen. So als starte die Partitur noch einmal durch.

Hans-Peter Jahn (Programmhefttext zum Eclat Festival 2008)

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